15 Jahre lang ist Olivier Kruschinski zu jedem Spiel seiner Mannschaft, dem FC Schalke 04, gefahren. Er hat auf der Tribüne gejubelt und mitgelitten, wenn es mit der Deutschen Meisterschaft wieder mal nicht geklappt hat. Die Leidenschaft für die Königsblauen hat er schon mit seinem Vater geteilt, und er selbst hat sie an seinen Sohn weitergegeben. „Der erste Gang nach der Geburt“, erzählt der Mittvierzieger mit einem Grinsen, „ging nicht etwa zum Standesamt. Nein, der ging gleich ins Vereinsheim zur Anmeldung“. Das muss wahre Liebe sein. Ist es auch. Wer Olivier heute allerdings als Schalke-Fan bezeichnet, „der beschimpft mich. Ich bin nicht Fan, ich bin Schalker! Schalker sein ist Teil meiner Identität und somit auch die Antwort auf die Frage: Wer bin ich eigentlich?“ DeinNRW hat Olivier Kruschinski in dem vielleicht berühmtesten deutschen Stadtteil getroffen.
In der Geschichte Gelsenkirchens untrennbar miteinander verbunden sind, natürlich, die Kohle und der Fußball. Denn der Essener Unternehmer Friedrich Grillo holte vor 150 Jahren zigtausende Bergarbeiter aus Polen ins Revier. Das beschauliche Gelsenkirchen wuchs zur ansehnlichen Großstadt mit 400.000 Einwohnern. Und der FC Schalke 04 war so etwas wie die erste „Werkself“. Denn auch die 14-jährigen Jungen fuhren hier in den 1930er/40er Jahren tagsüber in den Schacht.
Heute leben „nur“ noch 250.000 Menschen in der zentralen Ruhrgebietsstadt. Denn der Bergbau verschwand und mit ihm die Bergarbeiter. „Ihr Schalke“ aber nahmen die Menschen mit, „weshalb es heute überall im Land Schalke-Hochburgen gibt“, wie Olivier Kruschinski weiß. Wenn also samstags in der heutigen Veltins-Arena, die übrigens nicht etwa in Schalke, sondern genau in der geografischen Mitte von Gelsenkirchen, im Stadtteil Erle, steht, ein Heimspiel des Bundesligisten FC Schalke 04 angepfiffen wird, bedeutet das für viele Fans eine mehrere hundert Kilometer lange Anreise
Derweil bröckelt an dem Ort, an dem der Club seine größten Erfolge feierte, wo der FC Gelsenkirchen Schalke 04 sieben Mal Deutscher Meister wurde, seit Jahren der Putz. Wildes Gras wuchert über die Geschichte der legendären Kampfbahn Glückauf. Immerhin ist es Kruschinski und seinen Mitstreitern vom Projekt „Schalker Meile“ gelungen, vor dem Eingang mit den blauen Gittertoren ein Schild mit der Aufschrift „Ernst-Kuzorra-Platz“ aufstellen zu lassen. Und im Stadion, in dem heute Jugendfußballer auf Kunstrasen kicken, erinnern mittlerweile zwei großformatige Fotos an die Zeit, als 70.000 Menschen – nach dem sonntäglichen Kirchgang noch mit Hut, Anzug und Krawatte bekleidet - ihren Helden am Spielfeldrand zujubelten. Wer sich beim Besuch der schon leicht überwucherten Tribünen darauf einlässt und einfach mal für einen Moment die Augen schließt, kann sie womöglich hören und ist plötzlich mittendrin in diesem ganz besonderen Wir-Gefühl von damals. Das spätestens ist dann auch der Moment, in dem selbst Nicht-Fußballer von der Magie dieses vergessenen Ortes gepackt werden.
„Fussball war für sie dann ein Ventil für einmal die Woche rauskommen - Kirche - Kneipe - Kurve - Kopf frei kriegen und die eigenen Wünsche, Träume und Hoffnung aufs Spielfeld projezieren.“
Die Besucher, die ihn an diesem Tag auf seiner „Mythos-Schalke“-Tour begleiten, nicken, bevor sie nebenan im rustikalen Vereinsheim mit dem Charme der 1960er Jahre auf Ernst-Kuzorra seinem Stammplatz nacheinander Platz nehmen und sich fotografieren lassen. Sie atmen Geschichte. Vereins- und Stadtgeschichte. Und wenn Olivier dann davon erzählt, wie er als Kind selbst einmal seinem Idol – dem Mann also, der Schalke trotz eines Leistenbruchs 1934 zur ersten Deutschen Meisterschaft schoss und so zur lebenden Legende wurde - ein Bier und einen Kurzen servieren durfte, schwingt auch bei ihm ein bisschen Stolz und Ehrfurcht mit.
Gleichzeitig bedauert der Gelsenkirchener Stadtführer mit dem ungewöhnlichen Tattoo am Bein und dem lockeren Umgangston, dass erst nach und nach das Potenzial erkannt wird, das in diesem Stadtteil und seiner bewegten Geschichte steckt. Der viel besungene Schalker Markt etwa ist heute ein abgenutzter Parkplatz („ich habe nie gesagt, dass Schalke nur schön ist“). Die alte Bahntrasse von Zeche Consol, die einst sozusagen Geburtsort des „Polacken- und Proletenclubs“ S04 war, ist stillgelegt. An den Stätten der Industriekultur bahnt sich längst die Natur wieder ihren Weg und verwandelt sie in nahezu geheimnisvolle Orte, die zum Entdecken einladen.
So ein Ort ist auch die Kirche St. Joseph. Denn außerhalb von Gelsenkirchen weiß wohl kaum jemand, was sie Einzigartiges zu bieten hat. Ein Kirchenfenster nämlich, direkt gegenüber der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, zeigt den Heiligen Aloisius – mit Fußballschuhen, Stutzen und Fußball. Olivier Kruschinski kennt weltweit keine andere Kirche, die etwas Ähnliches hat. Er selbst hat sich das Fenster sogar auf seine linke Wade tätowieren lassen.
Umso mehr freut es den umtriebigen und bekennenden Lokalpatrioten, der so ganz nebenbei auch noch einen Fußball-Reiseführer geschrieben und das Label „Echte Legenden“ gegründet hat, dass „die Körner langsam Wurzeln schlagen“. Seit das Projekt „Schalker Meile“ im Jahr 2006 mit dem Engagement für den Stadtteil begonnen hat, haben sich Fan-Initiativen wieder hier angesiedelt. Schilder wurden erneuert, Fassaden gestrichen. Nahezu die gesamte Straße ist – mit Ausnahme eines gelben Hauses - Blau und Weiß. Und im Quartiersbüro des Projektes Schalker Meile gibt es Schals und Shirts mit Förderturm und Aufschriften wie „Eine Stadt, ein Gruß! Glückauf aus Gelsen“.
Die Schalker kehren wieder zurück nach Schalke, versammeln sich an der Kirche St. Joseph, in der eine blau-weiße Wand mit Fanpost, Schals und Trikots von der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Stadt und dem Verein zeugt. Und sie feiern friedlich mit den Fans der gegnerischen Mannschaft.
Dieses Miteinander, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, das ist Kruschinski auch wichtig, wenn er selbst ins Stadion geht oder mal wieder auf dem Feierabendmarkt in der Gelsenkirchener City sein eigenes Bier zapft.
„Das war so eine typische Schnapsidee“,
Aus Spaß wurde schließlich ernst. Denn auch die Idee, endlich wieder ein Gelsenkirchener Bier auf den Markt zu bringen, ist für Olivier „ein Bekenntnis zum Regionalen und Lokalen“, wie es ihn schon sein Leben lang begleitet hat. Mit den beiden Kellerbieren, die selbstverständlich - wie früher – in braunen „Plopp“-Bügelflaschen mit dem alten Glückauf-Logo verkauft werden, wollen Kruschinski und seine Mitstreiter an die Tradition des ehemaligen „Glückauf-Biers“ anknüpfen. Dieses wurde bis in die 1980er im Stadtteil Ückendorf gebraut, wo Kruschinski heute mit seiner Familie im alten Zechenhaus seines Großvaters wohnt. Seither gibt es in Gelsenkirchen keinen einzigen Sudkessel mehr, weshalb GEbräu und GEsöff noch im Weserbergland gebraut werden. Aber Olivier hätte da schon (wieder) eine Idee...
Drei Fragen an Oliver KruschinskiMit dem Rad durchs Ruhrgebiet
Olivier, Du hast 48 Stunden freie Zeit. Was würdest Du mit dieser Zeit auf jeden Fall in NRW machen?
Olivier: Jetzt sofort? Ein ganzes Wochenende? Das ist ganz einfach. Bei dem schönen Wetter würde ich mich spontan aufs Rad setzen und den Ruhrtal-Radweg fahren. Mit meiner Clique mache ich einmal im Jahr so eine Radtour. Das ist super. Du kannst ja in NRW überall toll Rad fahren, vor allem auf den vielen stillgelegten Bahntrassen.
Welchen Ort in NRW hast Du zuletzt für Dich neu entdeckt?
Olivier: Oje … das ist schwierig. Ich mach ja seit 20 Jahren nix anderes als NRW. Doch, da fällt mir was ein: Ich war neulich das erste Mal am Silbersee in Haltern. Einen Tag Strandgefühl mitten im Ruhrgebiet, das war schon cool. Früher bin mit dem Motorrad oft da vorbeigefahren, aber mit Kindern erlebt man die Gegend natürlich noch einmal ganz anders.
Dein persönlicher Lieblingsplatz in NRW.
Olivier Kruschinski: Ganz klar, Schalke. Was sonst? Aber grundsätzlich bin ich am liebsten dort, wo ich wohne. Nämlich in Ückendorf, mit Blick auf die Halden Hohewart und Rheinelbe und direkt an der alten Bahntrasse. Hier kann ich laufen und Rad fahren. Hier bin ich zu Hause.