Martje Thalmann mit Blashorn, Münster
Martje Thalmann mit Blashorn, Münster, Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann

Deutschlands einzige TürmerinMartje Thalmann

„Wenn ich spät dran bin und mich beeilen muss“, sagt Martje Thalmann, „dann schaffe ich den Aufstieg auch mal in zwei Minuten“. Die Frau hat Übung. Denn der Aufstieg, das sind immerhin 300 Stufen. Sechs Mal in der Woche steigt die gebürtige Norwegerin am Abend die schmale Stiege hinauf - zu ihrem Arbeitsplatz, in die Türmerstube von St. Lamberti in Münster. „Dein NRW“ hat Deutschlands einzige Türmerin im Staatsdienst dort, hoch oben über den Dächern der Bischofsstadt, besucht. 300 Stufen rauf und wieder runter.

Es ist kalt an diesem Vormittag. Das Thermometer zeigt minus 4 Grad. Martje Thalmann kommt selbstverständlich mit dem Rad zum Interview. Es ist ein altes, gelbes Postfahrrad. Sie kettet es schnell an, und nach einer kurzen Begrüßung in der Kälte geht’s auch schon los. Zwei kleine Stufen führen zu der unscheinbaren Tür an der Rückseite von Münsters berühmter Kirche. „Danach sind es ja nur noch 298, das geht doch“, sagt die junge Frau. Und sie lacht. Wie so oft, wenn sie von ihrer Arbeit erzählen darf. Wenn sie über die lange Tradition ihres Berufes spricht, über die Historie der Stadt, in der sie schon als Kind leben wollte, wenn sie von den langen ruhigen Abenden in der Türmerstube berichtet, von ihrer Angst bei einem schweren Gewitter im Jahr 2014 und vom Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere, als sie bei der Amtsführung des Oberbürgermeisters die große Rats- und Brandglocke läuten durfte - dann fallen immer wieder Worte wie unfassbar, erhebend, wunderbar, Zauber, Respekt und Glück.

Seit sie am 1. Januar 2014 das Amt von ihrem Vorgänger übernahm, sei sie gelassener geworden, wird Martje Thalmann am Ende des Gesprächs resümieren. Doch wer die Musik- und Geschichtswissenschaftlerin kennenlernen darf, wird schon nach kurzer Zeit merken, dass hier eine kluge, fröhliche junge Frau ganz bei sich und in der Stadt ihrer Wahl angekommen ist. Ihr Job: „Öffentlicher Dienst, halbe Stelle, mit Urlaubsvertretung und allem was dazu gehört“, platzt es beinahe aus ihr heraus. Und wieder lacht sie. Denn Türmerin in Münster sein zu dürfen, ist für die 36-Jährige nicht bloß ein Job.

Martje Thalmann auf Fahrrad, Münster
Martje Thalmann auf Fahrrad, Münster, Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann
Blick von St. Lamberti Turm auf Münster
Blick von St. Lamberti Turm auf Münster, Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann
Fahrräder am Prinzipalmarkt
Fahrräder am Prinzipalmarkt, Lennart Pagel

Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Turmwächter von St. Lamberti im Jahr 1383. Seine Aufgabe war es, nach Bränden Ausschau zu halten und vor fremden Eindringlingen in die Stadt zu warnen. Mehr als 630 Jahre später tritt nun jeden Abend um 21 Uhr eine hübsche, moderne Frau ihren Dienst in der kleinen Türmerstube an, um bis Mitternacht alle halbe Stunde von der Galerie das Türmer-Horn zu blasen. Außer dienstags. Am Dienstag bleibt das Horn stumm, dann hat die Türmerin frei. Angeblich, erzählt die Neu-Westfälin amüsiert, „weil es der Überlieferung nach in all den Jahrhunderten an einem Dienstag nie Brände oder feindliche Übergriffe gegeben hat...“

Getutet wird immer zur halben und zur vollen Stunde in drei Himmelsrichtungen. Richtung Prinzipalmarkt im Süden, zum Domplatz im Westen und zum Drubbel (auf diesem Platz „drubbelten“ bis 1907 auf engstem Raum 10 kleine Häuser) im Norden. Um den Osten allerdings ranken sich viele Mythen und Legenden, so etwa die von einem östlich gelegenen Friedhof und davon, dass man die Totenruhe bekanntlich nicht stören soll. Die Wissenschaftlerin bezweifelt das allerdings, nimmt eher an, dass es kirchenhistorische Gründe gibt, da die Altäre in den Kirchen nach Osten ausgerichtet waren und deshalb aus Respekt nicht gen Osten geblasen wurde.

Martje Thalmann mit Blashorn, Münster
Martje Thalmann mit Blashorn, Münster, Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann
Martje Thalmann mit Blashorn, Münster
Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann
Martje Thalmann

„Schon als Kind stand Münster ganz oben auf meiner Liste der Städte, in denen ich mal arbeiten wollte. Und nun bin ich tatsächlich hier und darf Teil dieses Jahrhunderte alten Brauchtums sein. Unfassbar!“

Über solche und andere stadtgeschichtlichen Ereignisse und Forschungsergebnisse berichtet sie regelmäßig in ihrem eigenen Blog: www.tuermerinvonmuenster.wordpress.com

Schließlich steigt sie nicht jeden Abend zum Spaß die schmale Wendeltreppe hinauf in die urige Stube mit allerhand Bildern an den Wänden, Stadtplänen, zahlreichen Büchern, Fachmagazinen, dem alten Radio aus Opas Zeiten, einem Kassettenrecorder noch aus Kindertagen und den beiden kleinen Heizlüftern, die ein wenig Wärme in der kühlen Turmspitze spenden. Mittendrin entdecken wir auch Seifenblasen („für die gute Laune“) und einige von m-ART-je selbstgemalte Postkarten. Die Motive: Alles rund um Münster. Denn neben der Musik und der mittelalterlichen Geschichte ist auch die Kunst eine große Leidenschaft der in Südnorwegen und in der Nähe von Bremen aufgewachsenen Frau, die nebenbei noch als Lektorin und Übersetzerin für Englisch und Französisch arbeitet. 

Und während der Blick weiter durch das geordnete Chaos in der Türmerstube schweift, bemerkt Martje Thalmann kurz noch: „Alles hier oben ist übrigens ordnungsgemäß geprüft und sicherheitstechnisch abgenommen.“ Und mit einem Augenzwinkern fügt sie hinzu:

„Das ist hier also nicht nur der schönste Arbeitsplatz der Welt, sondern wohl auch der sicherste.“

Zumal sich die Türmerin auch jeden Abend beim Amtsantritt bei der Feuerwehr an- und nach Feierabend wieder abmelden muss. Ist sie doch stets ganz allein hier oben, darf aus Sicherheitsgründen niemanden mitnehmen. Auch öffentliche Führungen gibt es im Turm von St. Lamberti in Münster nicht. „Ja“, sagt die Türmerin, „ich bin immer allein hier, einsam bin ich nicht.

Martje Thalmann mit Blick von St. Lamberti Turm auf Münster
Martje Thalmann mit Blick von St. Lamberti Turm auf Münster, Tourismus NRW e.V., Ralph Sondermann
Johann Wolfgang von Goethe

„Zum Sehen geboren
zum Schauen bestellt
dem Turme geschworen
gefällt mir die Welt“

Martje Thalmann, die sich bei ihrer Bewerbung vor drei Jahren mit diesem Goethe-Zitat gegen immerhin 46 Mitbewerber durchsetzen konnte, schreibt deshalb alles auf, was sie hier oben schon so alles erlebt und gelernt hat. „Till Eulenspiegel beispielsweise kennt jeder“, sagt sie, „aber wussten Sie, dass der auch einmal Türmer war?“ Eine andere Geschichte handelt etwa von der „hohen Kunst des Tutens“. Das nämlich folgt einer bestimmten Zahlenmystik und ist keineswegs so leicht, wie der Laie sich das vorstellt. „Vor allem musste es auf Anhieb klappen.“ Denn üben konnte Martje Thalmann mit der gut 1,20 Meter langen, kostbaren Nachbildung des Original-Horns vor ihrem „ersten Mal“ nicht. Das hätte ja jeder gehört.

Die zentrale Zahl bei allen Signalen ist übrigens die „3“. Sie steht unter anderem für die Dreifaltigkeit Vater, Sohn und Heiliger Geist. Um 21 Uhr erklingt deshalb dreimal ein dreifaches „Tuuuut“, um 22 Uhr sind 2×3 Tuuuut plus 1×4 Tuuuut vom Turm zu hören, also: „Tuuuut – Tuuuut -Tuuuut (Pause) Tuuuut – Tuuuut -Tuuuut (Pause) Tuuuut – Tuuuut – Tuuuut – Tuuuut“. Am Anfang hat Martje Thalmann, die neben dem Türmerhorn noch acht weitere Instrumente wie Klavier, aber auch Renaissance-Laute und Kontrabass beherrscht, sich auch mal verzählt. „Das wurde in der Stadt sofort registriert“, erinnert sie sich. Meistens aber sind die Reaktionen auf ihr mittelalterliches Handwerk positiv. „Der Nachtwächter antwortet immer“, erzählt sie. „Die Leute rufen mich aber auch Rapunzel oder sie schreien scherzhaft: „spring nicht.“ Manche fordern auch eine Zugabe.
Die gibt es, natürlich, erst wieder zur nächsten vollen oder zur halben Stunde. Aber wer ganz genau hinhört, wird womöglich dann und wann auch ganz andere Töne hoch oben aus der Turmspitze vernehmen können. Denn selbst hört Martje Thalmann in ihrer Freizeit am liebsten Heavy Metal. Passt ja auch irgendwie zum Mittelalter.

Der Kultur auf der SpurDrei Fragen an Martje Thalmann

Frau Thalmann, Sie haben 48 Stunden freie Zeit. Was würden Sie mit dieser Zeit auf jeden Fall in NRW machen?

Martje Thalmann: „Ich würde das tun, was ich immer dienstags – an meinem freien Tag – mache, nämlich meine neue Heimat Westfalen kennenlernen. Der Dienstag ist immer mein Kulturtag. Dann suche ich mir ein Ziel in Münster oder der Region, fahre mit dem Fahrrad los, setze mich in Bus oder Bahn und erschließe mir das Land. Denn auch privat besuche ich z. B. gerne Kirchen und schließe mich dort öffentlichen Führungen an. Im Jahr des 500. Reformationsjubiläum stehen auf jeden Fall auch wieder einige Besuche im Stadtmuseum Münster auf dem Programm, denn dort ist ja auch die Geschichte der sogenannten Wiedertäufer aufgearbeitet. Die Eisenkörbe, in denen sie hoch oben am Turm von St. Lamberti aufgehängt wurden, habe ich ja jeden Tag vor Augen. Und mindestens ein Dienstag ist im Sommer für die Skulptur Projekte Münster reserviert. Schon vor zehn Jahren, als die Ausstellung zuletzt stattfand, war ich deshalb extra in Münster.“

Welchen Ort in NRW haben Sie zuletzt für sich neu entdeckt?

Martje Thalmann: „Soest. Mein Soest. Eine tolle Stadt. Da muss ich auf jeden Fall auch nochmal hin, denn bei meinem Besuch waren zwei Kirchen geschlossen, die ich mir gern noch ansehen möchte. Außerdem hat Soest viele Parallelen zu Münster, wie etwa die gut erkennbare ehemalige Stadtbegrenzung (in Münster ist dies die Promenade, in Soest der Stadtwall) und die vielen historischen, bzw. historisch wieder aufgebauten Fassaden und natürlich die Kunst. Nehmen Sie nur den Maler Wilhelm Morgner und sein wahnsinnig großes Oeuvre. Morgner wurde in Soest geboren. Aufmerksam geworden bin auf diese Verbindung allerdings im LWL-Museum für Kunst und Kultur in - Münster natürlich. Denn irgendwie hat doch alles irgendwie mit Münster zu tun…“

Ihr persönlicher Lieblingsplatz in NRW?

Martje Thalmann: „Meine Turmstube natürlich, was sonst? Denn Turmzeit bedeutet für mich immer Glückszeit. Im Ernst, hier oben atme ich freier und positiver als überall sonst. Und ich stelle fest, dass ich – seit ich hier arbeite – viel gelassener geworden bin.“

Der Kunst und Kultur verfallenMartje Thalmanns Lieblingsorte

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